Wirtschaft außer Atem – wie Kurzatmigkeit Operational Excellence im Wege steht

Diesen Monat saß ich mit Claudia Maradof – Atemtherapeutin und Executive Coach – zusammen, um über die Bedeutung des Atems zu sprechen – im konkreten und übertragenen Sinne, für Individuen wie für Organisationen. Und darüber, was das alles mit Operational Excellence zu tun hat. Spoiler Alert: Eine ganze Menge…

Sabine Breit (SB): Claudia, erzähl uns doch gerne ein Wenig über dich. Wer bist du? Wo kommst du her, auch beruflich, und was hat dich zur Atemarbeit gebracht?

Claudia Maradof (CM):Beruflich komme ich aus einem großen, weltweit tätigen Finanzkonzern. Dort habe ich 30 Jahre meines Berufslebens verbracht, klassisch als Kreditentscheiderin und Unternehmensbetreuerin, bin dann aber schon nach wenigen Jahren in den Bereich Programm- und Projektmanagement für IT-Projekte gewechselt. Schließlich hab ich im Transformationsmanagement meine Heimat gefunden.

Letztlich geht es in einem Unternehmen immer um die Menschen und wie sie miteinander arbeiten. In einem so großen Konzern, wo so viele verschiedene Kulturen und Menschen zusammenkommen, braucht es nicht nur ein gutes Maß an Respekt, sondern auch an Verständnis und ein Verstehen wollen, um operative Prozesse zu etablieren und die vorhandenen zu verändern.

Oftmals kommt dieser Veränderungswunsch ja von oben, vom Management, und es hat nicht unbedingt jeder Mitarbeiter Lust, da mitzuziehen. Da war es meine Aufgabe bzw. eine Notwendigkeit, die beiden Welten, die nicht immer in gutem Kontakt miteinander sind, wieder gut in Verbindung zu bringen und Projekte erfolgreich umzusetzen. Letztendlich ging es darum, den Wandel zu unterstützen und möglich zu machen, und das eben nicht nur intern, sondern ich habe auch viele Jahre mit externen Ansprechpartnern gearbeitet, u.a. Partnern auf der regulatorischen Seite, Softwarefirmen und anderen Dienstleistern.

SB: Du hast von zwei Welten gesprochen, die wieder in Kontakt zu bringen waren. Was meinst du damit?

CM: Ich nenne das jetzt einfach mal die Hauptentscheider, die das Unternehmen nach außen vertreten, und die, die die eigentliche Arbeit machen. Die dafür sorgen, dass das Unternehmen Kunden hat, dass die Produkte vertrieben werden können etc. Da habe ich wahrgenommen, dass es zwar verschiedene Instrumente und Anlässe gab, Kommunikation oder, noch wichtiger, Beziehung herzustellen, diese aber oft nicht nachhaltig war. Nachhaltig in dem Sinne, dass man echte Berührungspunkte gefunden hat. Meine Aufgabe war es deshalb auch, dafür zu sorgen, dass diese Kommunikation in beide Richtungen besser funktioniert und Menschen in Verbindung kommen.

SB: Spannend, dass du diese Abkopplung verschiedener Unternehmenssphären so deutlich beschreibst. Was macht diese Abkopplung Deiner Erfahrung nach mit den unterschiedlichen Sphären?

CM: Letztlich habe ich es so erlebt, dass beide Seiten frustriert sind. Die Arbeitsebene, weil sie immer mehr rackern muss, insbesondere jetzt, in Zeiten des Fachkräftemangels, und die zumindest adäquat bezahlt werden möchte. Das Wort „Schmerzensgeld“ haben wir früher im Unternehmen viel verwendet. Ich finde, das ist eine sehr spannende Begrifflichkeit, weil sie die Frustration so auf den Punkt bringt. Die Frustration und den Schmerz auf der Arbeitsebene.

Was das Topmanagement angeht: Das sind ja auch Menschen. Ich glaube, das wird oftmals vergessen. Die spüren auch einen unglaublich großen Druck mit Blick auf die Erwartungen der verschiedenen Stakeholder. Und auch Frust. Da denkt man vielleicht: „Wir entwickeln doch jetzt hier gerade eine neue Strategie. Wir nehmen uns doch schon einmal im Vierteljahr die Zeit für ein Town Hall. Warum verstehen denn die Leute das nicht?“

Wenn Unternehmen laufend unter Druck sind, werden sie kurzatmig

SB: Und warum verstehen die das nicht?

CM: Ich glaube, beide Seiten stehen so sehr unter Zeitdruck, dass sie sich nicht die Zeit nehmen, sich außerhalb solcher Formate noch mal wirklich auszutauschen, wirklich von Mensch zu Mensch. Ich glaube, dass das zu wenig stattfindet.

SB: Geht es vielleicht gar nicht so sehr ums Verstehen, sondern eher ums Zuhören?

CM: Es geht sehr um‘s Zuhören. Darum zu verstehen, was der andere mir da gerade wirklich sagt. Stattdessen wird ganz viel hektische Aktivität entfaltet. Dabei bräuchte man nur einmal einen Schritt zur Seite oder zurück zu machen, und dem anderen wirklich zuzuhören, das Gesagte wirken zu lassen und dann vielleicht auch später nochmal eine Frage zu stellen. Viele Unternehmen tun das nicht mehr, da sie laufend unter Druck sind. Dabei werden sie kurzatmig.

Kurzatmig heißt ja nichts anderes, als dass ich zu schnell ein und ausatme. Gerade wenn unser Ausatem nicht gehen darf, laufen simple physiologische Prozesse nicht mehr sauber ab, die dafür sorgen, dass Sauerstoff überhaupt in die Zellen kommen kann. Im übertragenen Sinne ist das im Unternehmen auch so.

SB: Das heißt, wenn ich ständig den Atem anhalten muss, im konkreten und im übertragenen Sinne, dann laufen irgendwann gewisse Prozesse nicht mehr richtig. Operational Excellence wird so unmöglich.

CM: Genau. Wenn wir uns ein Unternehmen mal als Körper oder als Mensch vorstellen, dann wird auch dieses Unternehmen sehen, dass die inneren Prozesse nach und nach gestört werden. Ganz einfach weil die Menschen, die diese Prozesse ermöglichen und durchführen, schlichtweg nicht mehr den Raum, die Energie und eben den Atem dafür haben. Die haben wortwörtlich keinen langen Atem mehr, um bestimmte Aufgaben regelmäßig und in der Qualität umsetzen zu können, wie man sich das wünschen würde.

SB: Unternehmen werden kurzatmig und haben keinen langen Atem mehr. Was bräuchte es denn, damit es entweder gar nicht erst so weit kommt oder sich die Kurzatmigkeit legen und Unternehmen wieder einen längeren Atem bekommen können.

CM: Ich denke, das sind zwei Komponenten. Das eine ist tatsächlich diese Entscheidung, zuzuhören. Was wir vorhin auch schon gesagt haben. Wenn wir einander wieder mehr zuhören, kann zweitens das Verständnis füreinander wieder wachsen.

Man kann z. B. verschiedene Angebote machen, um diese Form der Kommunikation und der Begegnung zu üben. Dafür gibt es Techniken und Methoden, wobei es wichtig ist, dass das nicht nur übergestülpt sondern ernst gemeint wird.

So kann ich Mitarbeitenden z. B. ganz praktische und bodenständige Atemübungen anbieten, die die Menschen im Arbeitsalltag stärken. Einfache kleine Übungen, damit man seine Energie wieder spürt. Teil davon kann sein, dass wir morgens ein gemeinsames Dehnen und Rekeln machen. Das klingt vielleicht albern, und das ist hochprovokant. Das würde nicht jedes Unternehmen und nicht jeder Mensch mitmachen, weil sie dadurch sehr menschlich werden. Viele möchten ja gar nicht, dass sie in ihrem Arbeitsumfeld in der Tiefe als Person oder als menschliches Wesen auch erkannt werden. Sie gehen dahin, weil sie arbeiten wollen, und ansonsten haben sie ihr Privatleben.

Es braucht die Bereitschaft, sich wieder mit den Menschen zu beschäftigen

SB: Da berühren wir eine für mich schon lange faszinierende Frage: Inwiefern zeigen sich Menschen in Unternehmen noch als Menschen? Inwiefern ist es gewünscht, dass sie dort mit all ihrer Menschlichkeit erscheinen, und nicht nur als sogenannte Rolle oder Funktion?

Natürlich ist jedes Unternehmen anders, und in jedem Unternehmen gibt es Bereiche, die im oben genannten Sinne noch lebendiger sind als andere. Wenn man jetzt aber mal an die Interaktion mit der Außenwelt denkt – Kunden, Zulieferer, Regulatoren etc.: Inwiefern können Unternehmen, denen im Innen Menschlichkeit und Lebendigkeit abhandenkommen, externe Stakeholder noch als Menschen wahrnehmen und als solche behandeln? Inwiefern kommen diese Gruppen in den Prozessen der Unternehmen noch als Menschen vor statt nur als Zielgruppe oder als Zahl? Und wie werden solche Unternehmen wiederum von der anderen Seite aus wahrgenommen?

CM: Nehmen wir einfach mal Aufsichtsbehörden und deren Anforderungen: Da will jemand was von mir und vielleicht empfinde ich diese Anforderung gar nicht als so sinnvoll, oder es dauert lange, bis ich sie umsetzen kann.

Ich habe das in meiner Zeit im Konzern oftmals so wahrgenommen, dass sich in solchen Situationen jede Seite auf ihre Position zurückzieht und die Strukturen verhärten. Das ist nicht hilfreich. Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich sagen: Natürlich war ich in Gesprächen mit Regulatoren die Vertreterin des Unternehmens. Aber wenn ich dort meinen Gesprächspartner als Mensch angesprochen habe und nicht vorrangig in seiner Rolle und Funktion, dann habe ich gemerkt, dass er sich vermitteln konnte. Dass er die Gelegenheit bekam, nicht nur Forderungen rauszuhauen, sondern seine Perspektive nochmal genauer zu vermitteln. Dann kann man wieder ins Gespräch kommen, wenn der Wunsch da ist.

Ich nehme jetzt mal diesen abgedroschenen Begriff der „Achtsamkeit“. Aber es geht tatsächlich darum, achtsam zu sein. Wahrzunehmen, wie der andere gerade da ist, was er sagt, was er eventuell wirklich von mir will. Dann kann ich für mich entscheiden, wie ich damit umgehe. Das heißt ja mitnichten, dass immer Friede, Freude, Eierkuchen oder „wir haben uns alle lieb“ herrscht. Nein, es geht ganz bewusst darum, für sich zu sehen, wie weit man mitgehen kann, um dann dem anderen auch signalisieren zu können: „Ich hab Dich verstanden, und trotzdem kann ich da jetzt nicht weitergehen.“ Das ist eine Klarheit, die beiden Seiten gut tut.

SB: Und dann kann man auch im wahrsten Sinne des Wortes den langen Atem miteinander haben. Letztlich geht es um Beziehung, oder?

CM: Ja, genau. Es geht um eine Beziehung zu einer Aufsichtsbehörde oder zu einem Kunden. Diese Beziehungen werden wahrgenommen und ins Leben genommen durch Menschen. Wenn ich dann im Unternehmen nicht mehr als Mensch aufscheinen darf, wenn das nicht opportun ist, oder wenn ich Angst habe, das zu tun, wie sollen dann tatsächlich Beziehungen – zu aller erst im Innen – gepflegt werden? Wie soll dieser lange Atem dann entstehen?

SB: Wenn der lange Atem als erstrebenswert angesehen wird, d. h. wenn es nicht mehr darum geht, mit dem Regulator einen schnellen Fix hinzukriegen oder das nächste Produkt schnellstmöglich an den nächsten Kunden zu verticken, sondern um den Aufbau langfristiger Beziehungen, dann entsteht auch mehr Toleranz für Menschliches und Leichtigkeit im gesamten System. Auch und besonders in den Momenten, wenn mal was schiefgeht. Auch das ist Operational Excellence – Beziehungen zu pflegen, die tragen, wenn es mal schwierig wird.

CM: Was es überall braucht ist die Bereitschaft, sich wieder mit den Menschen zu beschäftigen. Und das braucht Übung. Sowohl für unseren Körper als auch in Unternehmensstrukturen braucht es Übung. Wenn es aber zu viel zu schnell Transformation gibt, wie soll ich dann Neues einüben?

Aber selbst wenn ein Unternehmen in seiner DNA hat, sich ständig schnell zu ändern, etwa um Kundenbedarf decken zu können, dann ist es umso wichtiger, dass ich Menschen auf der Arbeitsebene habe, die weiterhin kritisch mitdenken, die gestärkt sind und auch sagen können: „So weit geht das Tempo, jetzt kann ich aber nicht mehr. Können wir hier nochmal was wandeln und wirklich was ändern, so dass wir wieder besser unterstützen können.“

Das braucht aber eine Vertrauensebene, und Vertrauen wächst durch Zeit, das wissen wir alle.

Den Wandel souverän und entspannt meistern, wenn alles im Fluss bleiben darf

SB: Streng genommen ist Wandel ja immer. Wandel ist eher die Norm als die Ausnahme. Muss es dann nicht darum gehen, wie sich ein Unternehmen grundsätzlich so aufstellen kann, dass es diesen Wandel souverän und entspannt hinkriegt, egal wie schnell es getaktet ist? Damit die Mitarbeiter ausreichend (Atem)Raum in sich selbst haben, um Wandel nicht als Bedrohung zu empfinden, sondern als etwas Normales, was sogar freudvoll sein kann. Damit selbst auf einem längeren Sprint keine Kurzatmigkeit auftritt.

CM: Ja genau, weil alles im Fluss bleiben darf. Da muss der Atem dann nicht angehalten werden, oder sich zusammenziehen, sondern ich kann mich dieser Kraft nicht nur hingeben, sondern sozusagen auf ihr surfen. Dazu gehören dann auch immer mal wieder Ruhepausen. Das können ganz praktisch kurze Übungen zwischen zwei Meetings sein oder eine Pause, in der die Menschen einfach mal tagträumen, wo sie einfach nur dasitzen und sich langweilen.

Wenn ich in eine Hierarchie eingebunden bin und bekomme was von oben vorgelebt, mit dem ich mich dann vielleicht auch identifizieren kann, dann darf das auch eine Natürlichkeit entwickeln, statt dass es so etwas Verschämtes ist, nach dem Motto: „Nee, das mach ich jetzt nicht mit, da mach ich mich ja zum Affen“. Ich würde mir wünschen, dass es mehr Führungsverantwortliche gibt, die dies wirklich ermutigen und vorleben. Die beispielweise ihre Meetings mit einer Pause beginnen.

Das ist übrigens – wie ich es wahrnehme – weniger ein Problem im Mittelstand. Ich glaube, dort ist eher die Gefahr, dass die Unternehmer etwas für ihre Belegschaft tun und sich selbst manchmal vergessen. Dabei ist das natürlich auch wichtig, dass in so einem Unternehmen der Unternehmer oder die Unternehmerin sich selbst auch gut kräftigen, um für ihre Mitarbeitenden da sein zu können. Auch da sind wir wieder beim Vorleben.

SB: Wenn ich eine Belegschaft habe, die gut bei sich und gestärkt ist und gut miteinander funktioniert, dann muss ich als Unternehmer auch gar nicht mehr so viel tun und vorgeben. Dann bekomme ich als Unternehmerin auch meine Atempausen. Dann kann ich mich auch immer mal wieder zurücklehnen und genießen, was in dem Garten, den ich da angelegt habe, Wunderbares gewachsen ist.

CM: So ist das.

Zum Abschluss: Wie hat die Atemarbeit dein Leben verändert? Ich weiß, du hast schon an mehreren Orten in der Welt gelebt. Nun bist Du wieder im wunderbaren Eckernförde. Warum Eckernförde, außer dass du da aufgewachsen bist?

CM: Weil dieser Ort hier einfach viele meiner Bedürfnisse stillt. Es ist tatsächlich das Meer. Ich habe eine ganz besondere Beziehung zum Wasser. Sobald ich das (Salz)Wasser rieche, spüre, sehe, merke ich, was für eine Energie da ist, auch wenn die See ganz ruhig ist. Es ist einfach Energie da, und die darf fließen.

Ich war lange auch in Städten unterwegs, in denen auch immer Wasser war, aber ich habe gemerkt, ein Fluss ist was anderes als das offene Meer. Selbst an einem Meer wie der Ostsee spürt man, dass da einfach ganz viel Austausch ist. Außerdem habe ich hier durch meine Eltern wunderbare Möglichkeiten gefunden, meinen Traum von den Räumlichkeiten für meine Praxis und mein Unternehmen zu verwirklichen. Da habe ich für mich und mein Mann und ich für uns entschieden, dass es jetzt eben mein Ort ist, wo ich aus der Ruhe heraus agieren und dann wieder in die Welt rausgehen kann. Was ich ja eben auch für meine Kunden tue.

Und wie die Atem-Arbeit mein Leben verändert hat? Lange bevor ich meine Ausbildung gemacht habe, habe ich vor gut 30 Jahren mit dem bewussten Atmen begonnen. Am Anfang war es zufälliges Ausprobieren getriggert durch die Mutter einer Schulfreundin, die damals ihre Ausbildung zur Atemlehrerin gemacht hat. Dann habe ich mehr und mehr gemerkt, dass mir die Arbeit gut tut, ohne den Finger drauflegen zu können, was da eigentlich passiert. Es ist die tiefe Ruhe und Klarheit, die die Atem-Arbeit für mich bewirkt. Ich bin sicher, dass ich nicht so lange in Konzernstrukturen hätte arbeiten können, wenn ich meinen Atem nicht gehabt hätte.

Souverän durch den Wandel

Unlängst erschien in der Süddeutschen Zeitung ein interessanter Artikel von Karl-Heinz Büschemann mit dem Titel „Die große Verunsicherung der deutschen Manager“. Es ging darum, wie Firmenleiter durch steigende Komplexität und den schnellen Wandel der Dinge zunehmend überfordert sind und vermehrt Fehlentscheidungen treffen.

Weil der Kommunikationsfluss in einem Unternehmen mehr mit dem beschriebenen Phänomen zu tun hat, als man vielleicht auf den ersten Blick vermuten möchte, lohnt es sich, diese Perspektive ein wenig näher zu beleuchten.

SCHLAGLICHT 1: DER INNERE DIALOG

Die Zeiten seien ungewohnt für Unternehmenschefs, so Büschemann. Angesichts eines sich schnell verändernden Wettbewerbsumfelds sowie rasend schneller technischer und zunehmend unberechenbarer politischer Entwicklungen gerieten die Entscheider unter erhöhten Druck. Es sei für Manager immer schwerer, „Überblick und Nerven zu behalten“. Sie seien „zunehmend Getriebene“.

Das beschriebene Problem ist nicht auf die Führungsetagen von Unternehmen beschränkt. Es betrifft uns alle in unterschiedlichem Maße. Bei Menschen, an deren Entscheidungen allerdings Hunderte oder gar Tausende von Arbeitsplätzen hängen, ist es unerlässlich, dass sie den Kopf über die Dinge bekommen, mit Komplexität umgehen können und besonnen und souverän handeln. Dazu benötigen sie vor allem einen gut funktionierenden inneren Kompass, der sie am Himmel der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten sicher navigieren lässt. Um diesen Kompass immer wieder zu kalibrieren, braucht es wiederum einen inneren Dialog. Sozusagen ein Selbstgespräch, in dem die anstehenden Dinge ehrlich gewogen und beleuchtet werden, und zwar mit Herz, Hirn und Bauch. Informationen sind rational zu verarbeiten, vor dem Hintergrund des eigenen Wertegerüsts einzuordnen und mit Hilfe der Intuition zu wägen, um schließlich zu besonnenen Entscheidungen zu kommen. Ansonsten läuft man Gefahr, zum Spiel kommender und gehender Trendböen zu werden und kopflos in der Gegend herum zu agieren.

Aktionszeit statt Reaktionszeit

Was braucht es, damit dieser essenzielle innere Dialog stattfinden kann? Vor allem eins: Zeit. Zeit, in der Hirn, Herz und Bauch wie in einem Resonanzraum zusammenfinden und ins Gleichgewicht kommen können. Ich kann den Einwand hören: „Aber ich arbeite schon 14 Stunden am Tag. Wann soll ich denn dafür noch Zeit haben?“. Nun, die Kernaufgabe von Entscheidern besteht darin, Entscheidungen zu treffen und diese adäquat zu kommunizieren. Man kann dies in 14 Stunden nebenbei erledigen, irgendwann zwischen zehn Meetings und zwei Flügen. Das erhöht die Fehlerquote. Oder man kann sich innerhalb dieser 14 Stunden immer wieder bewusst Zeit und Raum nehmen, um Hirn, Herz und Bauch zusammenfinden zu lassen. Aktionszeit statt Reaktionszeit. Das erhöht die Trefferquote und gibt dem Unternehmen Stabilität in stürmischen Zeiten.

Denkfutter – Food for thought

Was benötigt man außer Zeit und Raum noch für einen erquicklichen inneren Dialog? Futter –„food for thought“, wie der Engländer sagt. Damit sind valide Informationen aus unterschiedlichen zuverlässigen Quellen gemeint. Das gilt insbesondere, wenn alte Gewissheiten und bekannte Planungsinstrumente nicht mehr gelten, wie es in der SZ zu lesen ist. Wenn die „wirkliche Realität“ mirakulöserweise ganz anders aussieht, als in Prognosen, Plänen oder einer irgendwann erarbeiteten Strategie angenommen. Sich valide Informationen zu besorgen bedeutet aber nicht, panisch in Big Data-Halden rumzuwühlen oder mit komplizierten Analysen der Vergangenheit nach Rezepten für die Zukunft zu suchen. Vielmehr bedeutet es, Menschen zuzuhören, die in der „wirklichen Realität“, im ungeschminkten Hier und Jetzt, leben. So sind Entscheider gut beraten, wenn sie ihre Kommunikationskanäle (alias Augen und Ohren) für Anregungen aus allen Bereichen des Unternehmens sowie von externen Partner offen halten. Und zwar so direkt wie möglich, ohne Vorauswahl durch die übliche „In-Crowd“, damit relevante Informationen auch aus nicht vermuteten Richtungen zu ihnen durchdringen können.

Sendepausen

In gleicher Weise sollten Entscheider aber auch wissen, wann Kanäle zu schließen sind. Wer etwa mit dem Betreiben von Partikularinteressen oder dem steten Zufüttern wenig hilfreicher Historien, Annahmen und Eventualitäten ihre Zeit vergeudet, und wann es an der Zeit ist, sich zum inneren Dialog zurückzuziehen.

In diesem inneren Dialog ist ebenfalls Offenheit gefragt. So sollten Entscheider in der Lage sein, bei der Verarbeitung der Informationen Kopf, Herz und Bauch gleichermaßen zu Wort kommen zu lassen, statt sich von der einen oder anderen Stimme ins Bockshorn jagen oder zu Himmelfahrtsaktionen treiben zu lassen. Wie etwa von der Stimme der Angst, die sich wohl vermehrt in Unternehmen breit macht, wie in der SZ zu lesen ist.

Jeder Mensch hat irgendwann mal Angst. Und wir vergessen gerne, dass auch Unternehmenslenker mit einem sechsstelligen Jahressalär letztlich Menschen sind. Die eben auch mal Angst haben dürfen. Wenn Angst aber die lauteste innere Stimme bei der Entscheidungsfindung wird, haben Unternehmen früher oder später ein Problem. Weil Angst entweder lähmt oder zu nicht ausreichend durchdachten Handlungen treibt. Deshalb gehört es zu den vornehmsten Aufgaben von Führungskräften, durch ernsthafte Arbeit an der eigenen Persönlichkeit und den eigenen Denkmustern dafür zu sorgen, dass die Kommunikationskanäle für den inneren Dialog offen bleiben und nicht eine der Stimmen zum Verstummen gebracht wird oder die anderen immer übertönt.

SCHLAGLICHT 2: DER ÄUSSERE DIALOG

Wie bereits erwähnt, muss der innere Dialog mit vielfältigen Informationen gefüttert werden. Im SZ-Artikel wird dazu vorgeschlagen, althergebrachte Hierarchien und „Kommandoorganisationen“ aufzulösen, damit die Ideen aller Mitarbeiter auch bis zur Unternehmensführung durchdringen können.

Das ist zweifelsohne richtig. Tatsächlich reicht es aber nicht, die Empfangskanäle der Entscheider zu öffnen. Vielmehr müssen mögliche Ideengeber auch in der Lage sein bzw. in die Lage versetzt werden, über diese Kanäle adäquat klare Botschaften zu senden. Und zwar nicht nur nach oben, sondern in alle Richtungen, damit Teamarbeit und flache Hierarchien überhaupt funktionieren können.

Als könnten Fische fliegen

Dies ist aber leichter gesagt als getan. Das ergibt sich schon aus einer sehr einfachen Logik: Getriebene Führungskräfte senden in Wort und Tat offen oder unterschwellig Signale der Angst und Konfusion ins Unternehmen. Zu erwarten, dass Mitarbeiter in einem solchen Klima leichtfüßig in einen offenen Diskurs eintreten und mutig Ideen vorbringen oder gar Entscheidungen treffen, ist ebenso realistisch, als würde man von einem Fisch erwarten, dass er fliegt. Wurde ein Unternehmen über lange Zeit als Kommandoorganisation geführt, ist ferner davon auszugehen, dass die kommunikativen und persönlichen Fähigkeiten, die für mehr Eigenständigkeit auf allen Ebenen erforderlich wären, bei vielen verkümmert sind. Wer es gewohnt ist, vor allem nach Anweisung zu arbeiten, wird nicht über Nacht zur Eigeninitiative finden und zu der Fähigkeit, diese Initiative auch wirksam zu kommunizieren. Wer sich daran gewöhnt hat, andere herumzukommandieren, wird nicht von jetzt auf gleich zu einem Teamplayer mit kooperativem Kommunikationsstil.

Kommunikationsmuskeln aufbauen

Verlangt man Mitarbeitern diese Fähigkeiten trotzdem ab, ohne ihnen die Zeit und die Mittel zu geben, um diese (wieder) erlernen zu können, führt jeder „Agilitätsbefehl“ unweigerlich zu neuen Signalstörungen in den diversen Kommunikationsketten. Zuweilen muss man nämlich erst (wieder) lernen, was der Unterschied in der Tonalität zwischen einem Befehl und einer Bitte ist, schriftlich und mündlich, und am besten noch über diverse Sprachgrenzen hinweg. Auch Mitarbeiter, die über lange Zeit mit Angst oder Unsicherheit gelebt haben, werden nicht ohne weiteres zu einer sogenannten „Speak-Up-Kultur“ finden. Dafür muss erst wieder eine solide Vertrauensbasis gelegt werden. Und das dauert.

So braucht es auch für das Gelingen des äußeren Dialogs Raum und Zeit. Raum und Zeit, damit Vertrauen wachsen kann – in das Management und sich selbst. Raum und Zeit für gezielte Angebote, durch die Mitarbeitern die Möglichkeit gegeben wird, ihre Kommunikationsmuskeln wieder zu trainieren und aufzubauen, damit sie Informationen und Ideen angemessen und verständlich an die richtige Stelle bringen können. Außerdem benötigt man unterstützende Strukturen, wie etwa ein durchdachtes Wissensmanagement, das es allen Mitarbeitern ermöglicht, sich Fach-, Erfahrungs- und Erkenntniswissen für ihren eigenen inneren Dialog und die Kommunikation mit anderen anzueignen.

Wer es Menschen in einem Unternehmen erlaubt und sie durch einen strukturierten Ansatz in die Lage versetzt, die Dinge so, wie sie sind, gründlich zu reflektieren und adäquat zu kommunizieren, muss sich nicht fürchten vor Komplexität und Wandel. Er sorgt vielmehr dafür, dass der Boden unter den Füßen, der laut SZ verloren zu gehen scheint, peu à peu wieder zu einer tragfähigen Schicht wachsen kann. Und vielleicht stellt man irgendwann sogar fest, dass man diesen Boden gar nicht mehr immer und überall braucht, weil man mental und kommunikativ so souverän geworden ist, dass man sich am Himmel der scheinbar unendlichen Möglichkeiten dank eines funktionierenden inneren Kompass mit großer Leichtigkeit und sogar Freude bewegen kann.

Den zitierten Artikel finden Sie hier.